Stoffeinheit
Du siehst uns an.
Ja, tust du,
gib‘s doch wenigstens dir selber zu.
Schon wieder siehst du uns an
auf die bekannte, distanzdurchwirkte Art.
Flüchtig,
aus dem einen Augenwinkel,
einen geblinzelten Moment,
denn zum einen findest dus‘ befremdlich,
irgendwie schändlich,
aber selbstverständlich
ist da auch der Teil von dir,
der wie ein spielgetriebnes‘ Tier auf allen Vieren
nach ein bisschen Tragik, ein bisschen asozialer Dramatik,
ein bisschen verkommener Statik giert,
weils‘ die Eigendynamik noch mehr katalysiert,
ja, dafür sind wir doch immer gerne da,
Dafür,
den Kontrast zu dir zu stellen,
Operette vs. Hundebellen
Limettenduft vs. wässrige wunde Stellen
Mach dir nichts vor,
dein Auge und dein Ohr zucken beinahe
sobald wir zu dir emporrufen
Täglich klopfen wir an Airpods,
an Kopfhörer, wissen,
dass wir mit unseren Rufen von den dreckigen Stufen
stören,
Wissen, dass die meisten es sich gern leisten
nur die Bissen zu hören, die in ihr Bild von Stadtrevier passen,
Und wir wissen, manchen fällt es schwer,
ihr schönes Bild beim Anblick unserer Wildheit zu entbehrn‘
Wie zwei Sphären ohne Berührungspunkt
spuken wir an den Luken von Hauseingängen,
Tunnelschächten, täglich
und nächtlich umeinander herum
Wir ziehen Beine ein, machen Rücken krumm,
wir schrumpfen bewusst auf dem Pflaster in uns ein,
Um nicht im und dennoch Teil eures Wegs zu sein
Und ja, wie gesagt,
eure Blicke sind rasch,
sind hastig, prallen ab von
Oberflächen aus Steppjacken,
Strickdecken, euch verprellt schnell
jeder Anblick unsrer Zeltwelt
aus Plastik, Elastikbehosten, zerstoßenen
Körpern,
Doch wir gehören immer noch und immer mehr
auch sehr zu dem, was ihr Gesellschaft nennt,
was ihr vorgebt in ihren Sitten, Marotten, Klamotten
allzu gut zu kennen
Manche von euch klagen über uns
wie eine Plage, sagen wir seien
Abschaum,
der Albtraum, die Blattlaus
die sich labt, schmarotzt am
gutgedeihenden überreifen Metropolenbaum,
Doch seid ihr‘s doch die den größten Raum
einnehmen, sich breit ausdehnen,
die Schicht und Klassenzugehörigkeit,
Kragenfarben nach außen tragen, während wir abseits
von Zunft und Zeitgeist,
Am Abstellgleis nach Geld aus euren teuren Taschen fragen
Nein,
Wir sind kein Abschaum,
keine gemeine Blattlaus,
Wir sind der alles umgrenzende Saum
unsres‘ sozialen Stoffs, der im Straßen-Staub
aufschlägt, der sich jeden Tag aufs Neue wieder
zusammennäht, wir sind der Stoffanteil des
Gesellschaftskleids
über den zumeist nur eine Nasenspitze
in die Ferne zeigt,
sich nur selten aber ein Augenpaar
hinunterneigt
und schaut,
was den Rand des Kollektivs
so umtreibt,
dort wo Schuhsohlen schubsen, lupfen und beflecken,
wo Bunt am grauen Pflaster verblasst,
rastlose Absätze Fäden ziehen,
Wickeln sich Parallelweltgeschichten ab,
die versuchen, der einen gemeinsamen
zu entfliehen
Nein, aber wir entziehen uns nicht reuelos
solidarischer Pflicht, nein,
wir verlieren durch unser Dasein auch nicht unser Gesicht,
denn das ist eh bereits verschleist,
in alle Richtungen
Entgleist,
Wir sind das kollektive Stadtgesicht,
in das nur niemand lacht
sondern mit Mitleid, Brechreiz, Peinlichkeit,
sich aus dem Stadtstaub macht
Wir sind wie Pulverfässer längst vergessner‘
Episoden die niemand mehr erzählt,
wir sind im Innern implodiert,
wir sind präsent durch das
was fehlt,
Wir spüren Glück nur temporär,
mehrn‘ es durch Schwarzarbeit und Spenden,
holn‘ es aus Tonnen mit bloßen Händen,
beschreiens‘ graffitolaut an Wänden
Minuten. Stunden. Tage. Sekunden.
Alles dieselbe gleiche Masse.
Die fremd durchzogen ist von Beinen
vorbeieilend, um nichts zu verpassen
Und während wir nachts schlaflos auf der Stelle treten,
im Schlafkokon wach die tauben Finger kneten,
ruhen sie zwischen warmen Wänden,
halten sich träumend an den Händen
Und nein, ihr irrt euch, gewaltig, denn trotz
dergestaltiger Unterschiede
sind wir keine Fremden,
Wir sind eins, teilen
diese eine kleinste
gemeinsame Wirklichkeit,
Und deshalb fordern wir euch auf,
die ihr stetig geht:
Bleibt
nur einmal stehn und
schaut
Im Raum
Der uns umringt
Dann sind wir einmal
Strom und Schaum
Stoffkleid und Saum
Staubkorn und Wind
– entstanden im November 2022, Madrid –